Prolog
Es war kein Wasser, das die Straßen Casertas in jener Nacht benetzte.
Dunkles Blut breitete sich auf dem alten Pflaster aus, bahnte sich zäh seinen Weg durch die zerfurchten Steine und reflektierte das blasse Mondlicht in grausamen Schimmer. Kein Laut vermochte die Finsternis zu durchdringen und keine Seele wäre zu so später Stunde freiwillig hinaus in den eisigen Wind getreten.
Nur drei Gestalten waren der Nacht geblieben – zwei von ihnen kauernd am Boden, ihre Augen geschlossen und zahllose Wunden auf ihren Körpern. Das Blut sammelte sich unter ihnen in großen Lacken und einzig ihr leises Röcheln zeugte von dem wenigen Leben, das noch in ihnen steckte. Doch ihr Atem war schwindend und Schmerzen verzerrten ihre Gesichter – die einander so ähnlichen waren – fast bis zur Unkenntlichkeit. Jegliche Farbe war aus ihrer Haut gewichen und die Blässe ließ sie wie Geister wirken, als hätte der Tod sie lange schon zu sich geholt.
Über ihnen stand der Albtraum, der ihr Leben in wenigen Herzschlägen beenden konnte und ein Blick in seine Augen machte klar, dass in seiner eigenen Brust schon lange kein Herz mehr schlug. Er schien alt zu sein. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben und alle Farbe war aus seinem Haar gewichen … doch in seinen Augen sprühte unbändige Kraft. Wut wogte durch das Schwarz seiner Iris und der brennende Blick in ihnen galt einizig den Männern zu seinen Füßen.
„Maric - “ Ein smaragdgrünes Auge öffnete sich, blutunterlaufen und erfüllt von unsagbarem Schmerz blickte es zu seinem Peiniger. “Das wirst du bereu - “ Seine Stimme erstarb bevor er zu Ende sprechen konnte und ein grollendes Husten schüttelte seinen ganzen Körper. Abscheu trat in den Blick des Alten und seine Stimme zitterte vor Abscheu.
„Ihr … Ihr werdet nun mein Schicksal teilen … der Tod wird euch nun auch nicht mehr retten.“ Ein verzerrtes Lachen durchbrach die Stille der Nacht. Das Lachen eines Verrückten, der nur noch lebte, um Leben zu nehmen.
Kapitel 1 | Starke Winde
Mit gesenkten Brauen musterte Vaine das ungleiche Paar vor ihm. Schon seit gut einer halben Stunde saßen sie auf der morschen Parkbank – für sie schien die Welt still zu stehen. Um sie herum hasteten zahlreiche Menschen: in dicke Schichten Kleidung gewickelt, legten sie ihre Wege fast im Laufschritt zurück, doch die beiden bemerkten den Trubel um sie nicht.
Kurz ließ der stumme Beobachter seinen Blick über den Mann schweifen. Er hatte sich kaum verändert: Breit gebaut, schwarze, kurz geschorene, Haare und smaragdgrüne Augen, die das Mädchen ihm gegenüber vertraulich anfunkelten. Er hielt ihre Hände in seinen, ihr Kopf dicht an seine Schulter gelehnt und selbst über die Distanz konnte Vaine das Strahlen in ihren hellblauen Augen sehen. Auch der Dunkelhaarige lächelte selig und ihn beschlich allmählich das Gefühl, die Sache vor ihm wäre ernster als gedacht.
Langsam ließ er seinen Blick abschweifen und wandte sich gen Himmel. Seit seiner Ankunft türmten sich endlose, schwarze Wolken über dem Dorf und ein eisiger Wind jagte durch die frühsommerlichen Gassen. Den verärgerten Gesichtern der vorbei eilenden Bewohner nach zu urteilen, hatten sie die Kälte jetzt schon satt. Mitte April erwartete man sich anderes von dem Wetter: Es sollte warm und behaglich sein, stattdessen tanzten immer wieder vereinzelte Schneeflocken durch die Luft, als wollten sie die frierenden Passanten verhöhnen. Ein freudloses Lachen glitt über seine Lippen. Der Schnee, der sich langsam auf den Straßen sammelte, würde bald durch frisches Blut ersetzt und das Wetter wäre dann sehr schnell ihre geringste Sorge.
Unfreiwillig wanderten seinen Augen zurück zu dem Paar, das nach wie vor eng umschlungen auf der Parkbank saß. Sie ahnten nichts von alledem, was auf sie zu kam, hatten nur Augen füreinander und den friedvollen Moment, den sie teilten. Und Vaine würde in wenigen Sekunden derjenige sein, der ihre Illusion vom trauten Glück in Scherben schlüge. Großartig. Blieb nur zu hoffen, dass die Blonde zumindest um das Geheimnis ihres kleinen Liebhabers wusste, sonst wartete ein unsanftes Erwachen auf sie.
Langsam erhob Vaine sich von dem kleinen Steintreppchen, auf dem er dieses Gespräch nun schon viel zu lange hinausgezögert hatte. Mit leisem Grummeln klopfte er sich den Staub von der dunklen Jeans und zog seine Lederjacke fester um sich. Das Wetter konnte ihn nicht frieren lassen, aber der Gedanke an das, was dahinter steckte, ließ ihn frösteln. Betont lässig schlenderte er auf die Beiden zu und seine Ankunft verfehlte ihre Wirkung nicht.
Kaum hatte er sich ein paar Meter genähert, schnellte der Kopf des Mannes nach oben und er starrte Vaine direkt ins Gesicht. Eine Mischung aus Schrecken und Verwirrung huschten über seine Züge und er verlor keine Zeit, um auf die Füße zu springen und die Frau mit sich zu ziehen. Hastig schob er sich vor sie, als versuchte er, sie hinter seinen breiten Schultern zu verstecken, während die Blonde nur verwirrt blinzelte.
„So begeistert, mich zu sehen, Raul?” Er konnte sich das schiefe Lächeln nicht verkneifen, als er vor den Zweien zu stehen kam.
„Vaine. Was willst du hier?” Die Stimme des Dunkelhaarigen war einem Knurren nicht unähnlich und augenblicklich knisterte die Luft um sie vor Spannung. Das Mädchen indes blinzelte verwirrt über Rauls Schulter und musterte Vaine mit zunehmender Neugierde.
Er kam nicht umhin, sich zu fragen, wie viel sie von ihm wusste. Hatte Raul ihr alles erzählt? Ihr in jedem kleinen Detail erläutert, was für ein Monster er war, was er ihm Schreckliches angetan hatte und wie gefährlich es war, sich auch nur in seiner Nähe aufzuhalten?
„Wie kaltherzig. Nach so langer Zeit hätte ich mir schon etwas mehr erwartet.” Vaine senkte tadelnd die Brauen und trat mit geöffneten Armen einen Schritt nach vor. „Nicht mal eine Umarmung für deinen großen Bruder?”
„Dein Bruder?” Ihr verwirrter Blick sprach Bände. Raul hatte nicht schlecht über ihn gesprochen ... er hatte ihn gleich tot geschwiegen. Vaine versuchte, sich den kurzen Stich in seiner Brust nicht anmerken zu lassen und wandte sich eilig dem Mädchen zu. Wider jeglicher Vernunft wirkte sie nicht eingeschüchtert. Sie stand aufrecht, blickte ihm offen ins Gesicht und ihr Blick zeigte keine Furcht. Sie hatte Schneid, das musste man ihr lassen.
„Wenn du schon keinem von deinem missratenen, großen Bruder erzählst, wärst du dann wenigstens so nett, mir deine zauberhafte Begleitung vorzustellen?” Vaine trat einen Schritt nach vor, zu schnell, als dass Raul reagieren konnte und für eine Sekunde blitzte doch Furcht in Nathalies Augen auf – wie konnte es auch anders sein. Bevor sie zurückweichen konnte, nahm Vaine blitzschnell ihre Hand und drückte ihr einen sanften Kuss auf den Handrücken. Neben ihm räusperte sich Raul zunehmends gereizt, sodass er hastig zurück trat. Schnell rief er sich ins Gedächtnis, dass er nicht hier war um einen Streit vom Zaun zu brechen - nicht hauptsächlich.
„Vaine, meine Freundin Nathalie. Nath, mein älterer Bruder Vaine.“ Er betonte das Wort Freundin besonders sorgfältig, was dem Älteren eine gespielte Trauermiene entlockte.
„Kein Grund für das Misstrauen, Bruder. Habe ich dir jemals die Freundin ausgespannt?" Als Antwort bekam er nur einige abfällige Laute, doch keinen weiteren Kommentar. Das war einer der wenigen Fauxpas, derer er sich noch nie schuldig gemacht hatte ... aber das war auch kein Kunststück. Im Gegensatz zu Vaine war Raul eher der "finden und behalten"-Typ. In seinem gesamten Leben war Nathalie erst seine zweite Freundin und bei gut 400 Jahren hieß das wohl schon etwas.
Neugierig besah Vaine das Mädchen, das seinen Bruder so in den Bann gezogen hatte. Seit er Francesca verloren hatte, war er keiner Frau mehr so nahe gekommen ... sie musste schon etwas besonderes sein, um ihn aus seiner Trauer zu reißen. Nathalie indes musterte Vaine mit ebenso unverhohlener Neugierde. Immer wieder blickte sie zwischen den Männern hin und her, als versuchte sie die Familienbande zwischen den Zweien zu hinterfragen. Doch optisch war ihre Verwandtschaft nicht zu leugnen.
Dasselbe störrische, schwarze Haar, dieselbe blasse Haut: Ein starker Kontrast dazwischen, der den Brüdern etwas Dämonisches verlieh. Aus ihren Gesichtern blitzten die selben smaragdgrünen Augen und auch wenn Vaine ungleich schlanker gebaut war als sein Bruder, ließ etwas in ihrer Haltung erahnen, wie nah sie sich einst gestanden hatten. So ähnlich sie einander sahen, so verschieden waren ihre Persönlichkeiten. In Vaines Blick blitzte Verschlagenheit, ein süffisantes Lächeln stets auf seinen schmalen Lippen und etwas an ihm strahlte unvermeidbaren Ärger aus. Rauls Augen hingegen waren sanft und gutmütig – geradezu naiv – und seine bloße Anwesenheit vermittelte ein Gefühl von Ruhe und Frieden.
„Warum bist du hier, Vaine?” Es führte kein Weg an dem Gespräch vorbei.
Vaine warf noch einen letzten, zögerlichen Blick zu Nath, der die zahllosen Fragen sichtlich auf der Zunge brannten, ehe er sich wieder Raul zuwandte.
„Maric.” Ein Wort genügte, um Rauls gesamte Feindseligkeit in Nichts aufzulösen. Überraschung stürzte über sein Gesicht, gefolgt von Schrecken ... und Angst.
„Nathalie, geh bitte nach Hause.” Rauls Stimme war monoton und ihm entging das leichte Zittern seiner Hände nicht.
"Wie bitte?" Für einen Augenblick starrte sie ihn nur verdutzt an, dann ballte sie die Fäuste und ihre blassen Wangen nahmen rasant ein leuchtendes Rot an. Kurzerhand machte sie ein paar Schritte nach vor, ihr Blick blank wie Eisen. Oh-oh, Krise im Paradies.
„Du verhältst dich schon die ganze Woche abwesend, starrst jeden Tag stundenlang in die Wolken und jetzt taucht auch noch dein Bruder hier auf und ich soll einfach nach Hause gehen?” Raul duckte sich, als hätte ihn ein Schlag getroffen, das schlechte Gewissen schrie ihm geradezu aus dem Gesicht und Vaine hatte Mühe sein Lachen zu unterdrücken. „Du hast mir ein Versprechen gegeben Raul. Keine Geheimnisse mehr, nachdem - “ sie schielte kurz zu Vaine. „ … du sagtest, du vertraust mir. Also in welchen Schwierigkeiten auch immer du stecken magst, du musst dich ihnen nicht alleine stellen.” Dann schwieg sie, stand regungslos zwischen den Männern und starrte Raul herausfordernd an. Langsam drehte er sich nach ihr um, legte seine Hände auf ihre Schultern und blickte ihr fest in die Augen
„Nath. Es tut mir Leid. Ich verspreche, dir alles zu erklären. Aber geh nach Hause – ich bitte dich. Du bist hier nicht sicher ... und ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass dir etwas zustößt. Schließ die Tür hinter dir ab und warte auf uns, wir kommen bald nach.”
Eine ganze Reihe an Emotionen tanzte über ihr Gesicht und während Rebellion und Rührung um die Überhand kämpften, blinzelte sie misstrauisch zwischen den Brüdern hin her. Schlussendlich seufzte sie schwer. „Gut. Aber pass auf dich auf. Und komm bald heim.” Nathalie gab ihm einen hastigen Kuss auf die Lippen und warf noch einen flüchtigen Blick zu Vaine, bevor sie davon hastete.
Rauls Blick war geradezu schmerzerfüllt und auch Vaine sah der Blonden nach, bis sie in der Ferne verschwand. Als sein Blick dabei ein wenig zu tief hinab wanderte, räusperte der Jüngere sich zunehmend gereizt.
„Hübsch, Bruder.” Vaine konnte es nicht lassen, auf dem dünnen Eis Saltos zu schlagen. "Von dir hätte ich nicht gedacht, dass du dir einen Menschen zu Spielen suchst. Aber sie hat sehr offensichtliche Argumente - “
„Pass auf, was du sagst. Und ich spiele nicht.” Das angriffslustige Glitzern war mehr als nur untypisch für Raul und stachelte Vaine nur noch mehr an.
„Aber du hältst es für sicher, sie alleine durch die Gegend laufen zu lassen?” Ihn beschlich das Gefühl, dass er mehr darauf bedacht war, Nath vor ihm in Sicherheit zu bringen als vor Maric. Nicht, dass er jemals zugeben würde, wie sehr ihn das verletzte.
„Tagsüber wird er sich nicht an sie heran wagen, nicht ohne seinen Kristall.” Unwillkürlich schloss Rauls Hand sich um den schwarzen Kristall, der an einem Silberkettchen von seinem Nacken baumelte. „Ich weiß sie lieber sicher hinter Schloss und Riegel.”
„Auch das beste Eisenschloss wird ihr keinen Schutz bieten, falls Maric hinter ihr her ist.” Vaines Skepsis war offenkundig.
„Sie hat schon genug Angst, Vaine. Es gibt keinen Grund, sie noch mehr zu beunruhigen.” Die gemurmelte Rechtfertigung Rauls warf allerdings eine andere Frage auf.
„Weiß sie, dass du - “ Vaine machte einige vage Handbewegungen in Richtung seiner Zähne und Raul nickte mit einem Augenrollen. Auf den anerkennenden Pfiff seines Bruders reagierte er erst gar nicht. „Du weißt, dass das kein gutes Ende nehmen kann.”
„Spar dir die geheuchelte Fürsorge und komm zum Punkt, Vaine.”
Mittlerweile war Raul vermutlich froh, Nath nicht in der Nähe zu haben. Sie hatte ganz bestimmt noch nicht diese Seite an ihm entdeckt. Die animalische, gereizte ... die kurz davor schien, ihre Faust in Vaines Gesicht zu platzieren.
„Genug gealbert. Er ist hier.” Vaines Stimme war plötzlich rauer als zuvor, klar wachsende Ungeduld in seinen Worten.
Kurz wurde Rauls Blick forschend. Er suchte nach Vaines arroganten Lächeln, dem hinterhältigen Glitzern in seinen Augen, das ihm offenbarte, dass er nur schlechte Witze machte ... doch sein Gesicht war ausdruckslos.
„Unmöglich. Maric ist tot, wir haben ihn sterben sehen.”
„Genau. Und ich bin ins Kloster gegangen und lebe jetzt enthaltsam.” Vaine ließ den Witz einige Sekunden sickern, aber Raul war offenbar genauso wenig nach lachen zumute wie ihm selbst. „Denkst du wirklich ein aufziehender Blizzard ist im Frühling normal? In Florida?“
„Maric kann nicht hier sein, Vaine.” Er war merklich blass geworden, seine Hände zu Fäusten geballt.
„Sag das der Leiche, die sie heute gefunden haben.” In Vaines Augen spiegelte sich nicht einmal mehr ein Funken Humor. „Und dem 'tre giorni' das in ihre Brust gerissen war.”