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Zu Träumen ist oft zuckersüß. Aber bist du jemals aus einem Albtraum hochgeschrocken? Hast schweißgebadet nach Luft gerungen während dein Herzschlag in deiner klammen Brust zu explodieren droht?

Auch den schrecklichsten Albtraum musst du nicht fürchten, er stiehlt doch nur ein wenig Schlaf.

 

...was aber, wenn er dir dein Leben raubt?

 

Als Schatten beginnen zu verblassen und Menschen in einen Schlaf fallen aus dem sie nie wieder erwachen sollen, lauscht die junge Ellie der Legende der Traumtänzer. ...und deren Welt wird von Mächten bedroht, die selbst die süßesten Träume das Fürchte lehren.

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»Wieso sieht man die Wirbel nur nachts?«

»Weil ihre Welt unserer dann am nächsten ist.« Cassym bedachte das Mädchen neben ihm mit einem sanften Lächeln, ihr Blick galt allerdings einzig dem Nachthimmel. Das strahlende Leuchten der Wirbel über ihnen spiegelte sich in ihren Augen wieder und ihre Wangen leuchteten trotz der Dunkelheit rosig auf ihrer blassen Haut.

Mit jedem Funken über ihnen schien ihr Lächeln breiter zu werden, ihre Augen größer - ihre Neugier zügelloser. Auch sein Blick wurde wie magisch zurück zu den rasenden Lichtern gezogen. Der Himmel in Alateia war farblos, doch sobald die Sonnen hinter den Bergen verschwanden, begann Magie sich über das Land zu legen: Leuchtende Wirbel, die in tausend Farben über den Horizont fegten und schillernde Schweife hinter sich herzogen. Immer wieder rasten sie ineinander, verschmolzen in gleißenden Explosionen und bildeten neue Sterne, die alles unterm Firmament in ein Meer aus bunten Lichtern tauchten. Auch den Menschen erschienen die Wirbel: Er hatte sie in ihren Träumen sehen können. Als grüne und blaue Schleier ragten sie in ihren Himmel und offenbarten nur einen Bruchteil der Welt, deren Existenz sie nicht einmal in ihren kühnsten Träumen erahnten.

»Sie sind immer da, Alana, sie trennen ihre Welt von unserer. Nur Nachts können wir ihr Leuchten in der Finsternis mit bloßem Auge sehen.« Es war nicht nur sehen, es war vielmehr als das. Cassym spürte die Macht der Wirbel. Wie ein Rausch drängte die Energie sich durch seine Adern, füllte sein wild pochendes Herz und schien jede Faser seiner Existenz mit brennenden Funken zu erleuchten. »Die Wirbel werden nachts dünner«, flüsterte er, unsicher ob er noch erklärte, oder nur mit sich selbst sprach. »Die Welten kommen einander so nahe, dass die Barriere zu reißen scheint.« Sie tat es nie, doch ein unbändiges Gefühl von Freiheit legte sich über die Traumtänzer - als würde ein einziger Schritt genügen um die Wand aus purer Energie zu durchbrechen. »Deshalb können wir in die Wirbel schlüpfen - nur ein winzig kleines Stück in die Träume der Menschen.«

»Warum gehen wir nicht einfach weiter?« Ihre Stimme war atemlos und kurz wurde die unbändige Energie in seinem Inneren getrübt. Träume waren schön, doch ebenso gefährlich.

»Du weiß, dass das nicht möglich ist. Die Wirbel würden uns zerreißen - du spürst sie doch auch?« Eine Frage, deren Antwort er längst wusste.

»Wir sind nur die Wächter auf unserer Seite des Tors. Wir beschützen sie vor den Alben, dann kehren wir nach Alateia zurück, das ist unser Schicksal.« Ein Schicksal durch die Wirbel selbst bestimmt. Sie zeigten sich nicht nur als nächtliche Barriere, waren pure, reißende Energie, die jeden Winkel des Universums wie feine Adern durchströmte und mit Leben erfüllte.

»Meinst du, es gibt die Dinge, die sie sehen wirklich?« Sie sprach von den Träumen selbst - von den Bildern in die sie nachts tauchten, von jener lebendigen Kraft, von der die Alben zu zehren suchten.

»So sagt man. Farbenfrohe, duftende Blumen, Speisen so süß, dass du davon Bauchschmerzen bekommst und weiche Tiere in allen Formen und Farben - sie scheinen nur einen Katzensprung von uns entfernt.« Nachdenklich ließ Cassym seine Hand nach oben schnellen, als wollte er durch die rastlosen Wirbel hindurch fassen in die andere Welt, so nah und doch so fern. Der Gedanke alleine war gefährlich und doch süßlich lockend wie der Duft geschmolzener Schokolade an einem kalten Wintertag. Für einige Zeit war der Glockenturm in Stille gehüllte. In einer Stadt so voller Leben saßen die beiden Traumtänzer stumm nebeneinander - hatten nur einander und ein Schicksal,das sie teilten.

»Eines Tages will ich dorthin reisen,« brach das Mädchen ihr Schweigen. »Ganz bald.« Alana klang so überzeugt … Cassym konnte sich ein kurzes Lachen kaum verkneifen. Er musste es ihr ausreden, das war seine Pflicht. Ihr die Gefahr hinter einem solchen Wunsch klar machen, jeden Wunsch etwas gegen ihr Schicksal zu unternehmen ersticken - doch wie, wenn er in seiner eigenen Brust so stark pulsierte?

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte er stattdessen. Für einen Augenblick schwieg Alana. Sie legte die kleine Stirn in Falten und schien ihre ganze Konzentration aufzubringen. Ihr Lächeln kehrte erst zurück, als sie endlich eine zufriedenstellende Antwort gefunden zu haben schien und mit jener unumwerflichen Zuversicht, die nur ein Kind haben konnte, ihren Plan verkündete.

»Wir fliegen dorthin. Mit der ganzen Stadt.«

»Du willst dorthin fliegen?«

»Dann kann jeder hier die Welt der anderen Seite sehen!«

»Das ist es, was du dir wünscht?« Sie nickte entschlossen und in ihm zerbrach die Kraft, ihre Träume zu verneinen, vollkommen. Dieses Kind strahlte vor Hoffnung, voller Liebe voller Vorfreude auf das lange Leben, das vor ihr lag. Wieso war es seine Pflicht das alles zu zerstören? Sie war nur ein Traum, der träumte … kein Gesetz dieser Welt war wert, ihr das zu nehmen. »Wenn du das sagst, Alana.« Er strich ihr sacht mit der Hand über das nachtschwarze Haar, fühlte wie sie sich entspannte - Sie waren alle so voll Vertrauen, bevor diese Welt sie an sich riss. »Irgendwann werden wir die Stadt in den Himmel hieven - und dann fliegen wir in die Welt der Menschen.«

 

 

»Und essen ganz viele süße Nachspeisen? Versprich es!«

»Traumtänzer Ehrenwort.«

 

Doch Träume sollten niemals träumen.

 

Betäubt starrte Cassym auf die Stadt zu seinen Füßen.

Es war nur ein Augenblick von tausenden in einem Leben lang wie seinem - und doch würde sich dieser eine Moment für immer in sein Bewusstsein prägen. Die langsam erlischenden Lichter hinter den zerbrochenen Fenstern, der sengende Geruch von Blut, der ihn umschlug, als die Dunkelheit immer näher kam und das hallende Krachen, als die letzten Erdbrocken auf das ferne Festland stürzten. Ihr Traum war wahr geworden. Das Gefängnis, dem sie nie entkommen konnten war wieder geboren: Als fliegende Stadt die ihren Weg durch die Wirbel finden würde. Doch zu welchem Preis?

Cassym blickte schweigend auf die taumelnden Türme vor ihm, die frischen Ruinen die aus Leid und Tränen entstanden waren. Er würde die Vergangenheit auslöschen, diesem Ort einen neuen Namen geben.

 

… Lacrimosa - die Tränenreiche.

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Kapitel 1 Valeriana.png

Ellie biss sich gedankenverloren auf die Unterlippe während sie kontinuierlich an einem der vielen Rädchen drehte. Vorsichtig klopfte sie gegen das Stativ und ruckelte das Teleskop sogar ein Stück zur Seite - nach einem besseren Fokus suchte sie allerdings vergebens. Mit einem schweren Seufzen strich sie ein paar rote Fransen aus ihrem Gesicht und entschied, dass eine zweite Meinung doch nicht schaden könnte.

»Was denkst du?« Sie warf einen Blick über die Schulter hinter sich, wo ihr Vater ebenfalls an seinem Fernrohr herum schraubte, im Gegensatz zu ihr wirkte Charles jedoch tiefen entspannt. Er ließ sich keinesfalls in Eile versetzen, streckte sich genüsslich und warf ihr eine warmes Lächeln zu, bevor er ein paar Schritte auf sie zu tat um durch das verschlissene Teleskop zu schauen. Es folgte eine lange Abfolge an Hmm´s und Aha ´s während der er sich angestrengt am Kinn kratzte und ebenfalls ein paar der Einstellungsrädchen veränderte

 Dem darauf folgenden Grunzen nach zu urteilen, wohl mit ähnlich mangelhaftem Erfolg.

»Also die Farbe ist konsistent,« Ja, so weit war sie auch schon gekommen. »Interessantes Spektrum … was die Helligkeit angeht, könnte es passen - eindeutig. Der muss aus Schokolade sein. So braun, wie der ist.« …

Ellie war sich nicht sicher, welche Antwort sie erwartet hatte. Mit einer weiten Bewegung verschränkte sie die Arme vor der Brust und rollte theatralisch mit den Augen.

»Ja, natürlich - wie konnte mir das nur entgehen! Warte, ich hole meine Aufzeichnungen, so eine historische Entdeckung muss festgehalten werden! Und ich dachte schon, die Spektral-Klassifizierung würde anstrengend werden!« Charles raues Lachen hallte weit über die menschenleere Lichtung und als er das Mädchen an sich drückte konnte sie ein schiefes Grinsen nicht mehr zurückhalten. Nur hier, auf der letzten einsamen Erhöhung vor den Mauern Elgins - weit entfernt von ihren Werbetafeln und Neonröhren - konnte man den Sternenhimmel noch klar sehen. Weitab von all den Menschenmassen und ihrem Smog war die Luft noch klar und die Nordlichter glitten ungestört über den Horizont. »Dad. Nimm es etwas ernst: wir versuchen hier, Wissenschaft zu betreiben.« Charles ließ von dem Mädchen ab, nicht ohne ihr noch ein letztes Mal durch die Haare zu zausen, und stapfte beschwingt zu seinem Fernrohr zurück.

»Und ich dachte immer, das hier wäre nur ein Vorwand, um dich aus dem Glashaus zu bekommen, bevor du dich selbst in eine Pflanze verwandelst.«

»Die Vorstellung macht auch nur dir Angst - Cain nennt mich ohnehin schon einen Kaktus. Ich wette, wenn du ihm sagst, dass ich Dünger anstatt Hamburger zum Abendessen hatte, glaubt er dir das.«

»Ich bin sicher, du wärst ein ganz entzückender Kaktus. Einer mit ganz vielen Stacheln mit Widerhaken, vielleicht sogar so einer, der seine Nadeln nach dir ausstreckt, wenn du zu nahe kommst - «

»Ich wäre viel lieber ein Löwenzahn, die sind wenigstens unverwüstlich. Oder ein Stern. Ungebunden am Firmament, tausende Lichtjahre entfernt von ätzenden Kunden und doch nah genug um jede Nacht nach dir zu sehen.« Ein kurzer Schauer begleitete ihre Worte und Ellie blickte irritiert um sich. Ihr Vater hatte sich nicht von der Stelle gerührt, doch seine Haltung schien verkrampft. Die Schatten der wenigen Bäume hatten sich über ihn gelegt und als er sprach, war seine Stimme belegt.

»Die Sterne sehen einladender aus, als sie sind, Ellie.«

»Du sprichst von diesem Mond auf dem es waagrecht Glassplitter regnet, oder?«

»So in etwa.« Bevor Ellie den komischen Stimmungsumschwung ansprechen konnte, war er schon wieder verschwunden und Charles winkte Ellie mit dem üblichen Schalk in seiner Stimme zu sich. »Sieh her, das wird dir gefallen.«

»Besser als ein Schokoladenstern?«

»Wer hat dich nur erzogen, Kind?« Ellie antwortete nur mit einem leisen Kichern, bevor sie an Charles vorbei an das andere Teleskop trat - es war nicht viel größer als ihr eigenes und dabei weitaus mehr von der Zeit gezeichnet. Der bunte Lack hatte durch Jahre in Wind und Wetter seine Farben eingebüßt und schälte sich nun in fadem Grau von dem dunklen Karbon-Chassis.Von außen schien es kaum noch seiner Bezeichnung wert, doch die Linsen des Sternenguckers waren wohl gewartet und offenbarten den Blick auf rot-blaue Nebel die im dunklen All von strahlenden Sternen durchzogen wurden.

»Warte, das ist - « Ellie schien kurz überrascht, bevor sich ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete. »Der Orionnebel!«

»Dein Liebling, nicht wahr?«

»Du zeigst ihn mir auch ständig, da muss ich ihn ja lieben.« Entgegen ihrer Worte, lag vollkommene Glückseligkeit in ihren Zügen. Heimeliges, mollig warmes Glück, das nur ein Augenblick so simpel wie dieser hervorrufen konnte. Nicht einmal das Rascheln hinter ihr konnte Ellie von dem Anblick losreißen, erst als ihr Vater die Stimme erhob kehrte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren eigenen Planeten zurück.

»Sieh kurz her, Wildfang, ich habe etwas für dich.«

»Für mich?« Sie wollte sich sichtlich nicht von dem Teleskop trennen, aber die Neugier gewann schließlich Überhand und Ellie drehte sich nach ihrem Vater um. Er blickte ihr geradezu erwartungsvoll entgegen, in seinen Händen ein kleines, rundliches Objekt, das sie in der Dunkelheit nicht richtig erkennen konnte. Wieder spürte sie Kälte über sich ziehen, doch sie schüttelte das Unbehagen von sich und starrte lautlos auf das unbekannte Kleinod.

»Elena. Vor zwanzig Jahren, kurz nach deiner Geburt, habe ich ein Geschenk bekommen … von jemandem, der mir sehr wichtig war. Er hat seitdem gut auf mich aufgepasst, aber jetzt will ich, dass du ihn bekommst. Er soll dich beschützen wenn ich - er soll einfach auf dich aufpassen, ja?« Vorsichtig nahm Ellie den Gegenstand entgegen und drehte ihn mit wachsender Skepsis in ihrem Griff. Ein Metallring, umwickelt mit rotem Garn, darin ein komplexes Gespinst aus allerlei Fäden und Perlen. Er war alles andere als symmetrisch und die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen - und doch fühlte er sich irgendwie warm an … vertraut.

»Ist das … ein Traumfänger?« Nicht, dass sie an solche Dinge glaubte - Ellie war prinzipiell Skeptikerin - aber der Blick ihres Vaters war so ernst, dass sie in ehrfürchtigem Schweigen versank. Sie blickte noch einmal auf das Kleinod, besah jeden Knoten und jedes noch so kleine Detail mit aufmerksamen Augen. Die Berührung sandte ein warmes Kribbeln durch ihre Fingerspitzen und obgleich sie immer noch fror, breitete sich Wärme über ihre Haut. »Dad … Danke.« Als sie wieder auf blickte, hatte er bereits begonnen, ihr Teleskop abzubauen. »Wir gehen schon zurück?«

»Ich bin alt, Ellie. Ich kann nicht mehr die ganze Nacht herum tollen, das machen meine müden Knochen nicht mit.« Charles Tonfall war bemüht ernst, aber sein breites Lächeln machte den Effekt schnell wieder wett.

»Du willst nur pünktlich zum Bingo zu Hause sein.« Er schaute kurz schuldbewusst drein, räusperte sich und hielt ihr dann auffordernd eine Hand entgegen. Mit einem ergebenen Seufzen packte Ellie das zweite Teleskop und hing es sich über die Schulter. Sie sprintete Charles hinterher, hing sich ein und folgte ihm auf den Pfad von der Lichtung. Langsam stiegen sie den dunklen Hügel hinunter und gingen den erleuchteten Fenstern der Stadt entgegen.

 

Noch am selben Abend schlief Charles ein.

 

 

 

 

»Es ist spät … ich werde dann mal ins Bett gehen.« Behutsam schloss Ellie die grünen Fensterläden, versuchte das Chaos an Vorhängen gerade zu richten und warf dabei noch einen letzten, besorgten Blick auf den schlafenden Mann. Er wirkte, als hielte er nur ein Nickerchen. Friedlich schlummernd lag er da, sichtbar nur das regelmäßige Heben und Senken seiner Brust. Ellie ließ sich auf den weichen Futon neben dem Bett sinken und beobachtete wie der Schnurrbart ihres Vaters im Takt seines Atems wackelte - zumindest ein kurzes Lebenszeichen. »Anne hat geschrieben, es scheint ihr gut zu gefallen im Süden. Die Karte sieht aus wie eine Vase und es kleben Plastik-Tulpen drauf, die musst du wenigstens nicht gießen. Ich hab‘ sie auf den Kühlschrank gehängt.« Sie deutete vage hinter sich, natürlich versperrte die Wand den Blick in die Küche, doch geschlossene Augen konnten ohnehin nichts sehen. »Oh und Cain kommt morgen nach der Arbeit vorbei, wir wollen die Trilogie endlich fertig ansehen, das ist doch okay? Ich wollte eigentlich bis zu den Feiertagen warten aber du weißt ja, wie er ungeduldig er ist. Seine Großmutter freut sich bestimmt wenn sie sich auch mal einen ruhigen Abend machen kann.« Wie erwartet kam keine Antwort - das allein wog in ihrer Brust wie tausend Felsen. »Alles wird gut Dad, ja?« Mit einem tiefen Seufzen erhob Ellie sich und zog sich aus dem kleinen Raum zurück. Die Tür schloss sie dabei bedacht vorsichtig - auch wenn sie vor Glück in die Luft gesprungen wäre, wenn der Ärger über eine zuknallende Tür ihn wecken könnte. Sie hatte seine Stimme schon so lange nicht mehr gehört, dass ihr jede Tirade Recht wäre.

Ihr Blick fiel auf den Stapel Papiere auf dem Küchentisch: Rechnungen für Untersuchungen und Krankenschwestern über denen sie mittlerweile fast durchgehend brütete. Im Vorbeigehen leerte sie die Überreste ihres erkalteten Tees auf der Anrichte in die Spüle - Ihr Handrücken streifte das Teleskop, das hinter der Tür lehnte … es schien so ungewohnt sauber und ungenutzt in der einsamen Ecke. Ellie bemühte sich, es nicht anzusehen als sie durch den Türrahmen und die nahe Treppe zum Dachboden hinauf schlurfte. Sie nannte den ‚Dachboden‘, der kaum mehr als ein niedriges erstes Stockwerk war, erst seit kurzem ihr Eigen. Charles und sie hatten Wochen damit zugebracht, den verwahrlosten Dachstuhl in etwas Bewohnbares zu verwandeln. Die patzigen Farbstriche und schrägen Fußbodenleisten waren dabei beständige Zeugen ihres handwerklichen Ungeschicks. ‚Damit du etwas mehr Platz hast‘, hatte ihr Vater gesagt, als er eines Abends mit einem Anhänger voll Verputz, Brettern und Nägeln aus dem Baumarkt zurückgekommen war. Sie war der Überzeugung, dass er nur keine Erde mehr auf der Küchentheke wollte und sie und ihre Pflanzen deswegen einen Stock höher abschob. Eben jenen Pflanzen war es zuzuschreiben, dass sie selbst kaum Platz hatte, sich in den weiten Raum hinter der Tür am Treppenende zu schieben. Nicht dass sie sich beschwerte, sie hatte schließlich jedes einzelne Blatt selbst hier einquartiert, aber ein anklagender Blick entkam ihr dennoch als sie beinahe zwei Kakteen und die große Efeutute umstieß, nur weil sie sich auf ihr Sofa fallen ließ. Mit einem zufriedenen Lächeln schob sie eine der Pflanzen etwas zurück und ließ ihre Finger durch die großen Farnfächer gleiten, die von ihrer Decke wachsen zu schienen. Zumindest wurde er jetzt nicht mehr mit Limonadenresten gefüttert - Charles Talente lagen in der Sternenkunde, nicht in der Botanik. Schon waren Ellies Gedanken wieder einen Stock tiefer und sie zog die Hand wieder an sich.

‚Die Stationen sind voll genug - wir können keine Plätze verschwenden. Es ist schließlich kein richtiges Koma.‘ Die Erinnerung trieb ihr immer noch die Galle hoch. ‚Beim momentanen Stand der Dinge können wir nichts für ihn tun. Wir müssten erst eine Ursache haben.‘ Energisch unterbrach Ellie ihre Gedanken bevor sie nur noch wütender wurde und versuchte sich abzulenken, indem sie aus dem Fenster starrte. Die Straße konnte sie kaum sehen, nur die viel zu bunten Vorhänge ihres Nachbarn und einige lose Blätter, die der Wind an der Scheibe vorbei trieb. Durch den offenen Spalt ging eine angenehme Brise durch den kleinen Raum und Ellies Blick verfing sich bald an dem alten Traumfänger, der von innen gegen das Fensterglas klopfte. Sachte stand sie auf, trat neben das alte Ding und nahm es in die Hände, beobachtete das komplexe Muster der Fäden in der untergehenden Sonne. Das letzte Geschenk ihres Vaters, kaum zu glauben dass es jetzt schon ein Monat war. Kurz streifte sie ein Gedanke, die Erinnerung an seine Worte, am Abend bevor er in sein Koma fiel, als er das letzte Mal die Aurora sah … bevor sich seine Augen schlossen. Ob er wohl von den Sternen träumte?


Sie wünschte nur, sie könnte ihn erreichen.

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Kapitel 2 Calea.png


Ellie hatte nicht bemerkt, wie sie einschlief. Das alleine war nicht weiter ungewöhnlich … was sie weit mehr beunruhigte war, dass sie nicht mitbekommen hatte, wie sie aufwachte. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich in der kleinen Gasse um, die so plötzlich vor ihr lag. Sie wusste weder, wo sie war, noch wie sie dorthin kam … Das letzte woran sie sich erinnerte, war das weiche Sofa unter ihrem Allerwertesten: Es gab folglich nur eine logische Erklärung.

»Träume ich?« Antwort kam keine, aber die Angelegenheit war ziemlich eindeutig, besonders als sie sich genauer umsah. Von ihrem Sofa fehlte jede Spur und auch den Traumfänger hielt sie nicht mehr in ihren Händen, stattdessen fand sie sich inmitten einer fremden Straße wieder. Die Pflastersteine unter ihren Füßen waren dunkel und unförmig, bildeten gemeinsam einen beengten, dicht gewundenen Pfad zwischen himmelhohen Gebäuden hindurch. Schmale, schnurgerade Häuser mit silbrigen Fassaden, die sich eng aneinander schmiegten und Ellie sowohl den Blick auf den Himmel als auch auf alles, was hinter der Gasse liegen mochte, verwehrten. Nur vereinzelt säumten Laternen den beengten Pfad, ihr Schein schien von den dunklen Steinen verschluckt zu werden und in dem schummrigen Zwielicht konnte Ellie kaum die Hand vor Augen erkennen. Zögerlich machte sie einen Schritt nach vor, setzte ihren Fuß so sanft auf den Pfad vor sich, als fürchtete sie, er könnte jeden Augenblick verschwinden.

»Hallo? Jemand zu Hause?« Ihre Stimme klang dünn und verloren durch die verlassene Straße und wieder blieb eine Antwort aus. War das hier ein Traum? Sie bewegte sich weiter und mit jedem Schritt wuchs ihr Unbehagen. Sie konnte kaum Details ausmachen und die Fenster der Gebäude um sie waren ausnahmslos schwarz und verwaist. Ein eisiger Windzug strich über ihre Haut und sie schlang die Arme um sich als eine Böe ihr die Haare in den Nacken schlug. Ein unbändiges Gefühl der Unruhe schien mit dem Wind zu reiten und Besitz von ihr zu ergreifen. Tausend Nadeln, die sich in ihren Magen bohrten und sie dazu brachte, ihren Blick hektisch durch die Gasse gleiten zu lassen. Kurz streifte sie ein Gedanke. War das ein Albtraum? Damit wäre zumindest die Wirksamkeit des Traumfängers endgültig widerlegt. Es blieb immer noch die Möglichkeit, sich einfach hinzusetzen und zu hoffen, dass sie bald aufwachte … doch die Unruhe trieb sie voran und ehe Ellie wusste, wie ihr geschah, war sie am Ende der Gasse angekommen. Vor ihr öffnete sich eine Querstraße, ein breiter Weg, gesäumt von denselben silbrigen Gebäuden wie zuvor. Doch hier waren die Häuser breiter, klebten nicht Fassade an Fassade sondern ließen gerade genug Platz um fahles Sonnenlicht auf das dunkle Pflaster zu Ellies Füßen fallen zu lassen. Mit jedem Schritt schien es etwas heller zu werden, auch wenn sie keine Sonne sehen konnte, und die Laternen kaum noch Licht von sich gaben. Langsam wurden die Konturen der Stadt klarer, Details sichtbar und in der Ferne, weit über den Dächern der Bauwerke konnte sie eine Turm ausmachen. Er schien alles um ihn weit zu überragen und ganz ohne es zu bemerken, lenkte Ellie ihre Schritte in seine Richtung. Langsam verging die unangenehme Kälte auf ihrer Haut und sie erwischte sich dabei, wie sie die Häuser um sich mit wachsendem Interesse musterte.

»Wohnt hier jemand?« Erst jetzt bemerkte sie, wie still es war. Ihre Stimme schallte verzerrt von den Fassaden zurück, doch es gab keine Antwort - und auch sonst keinen Laut in der verlassenen Gasse. Dass es keine Menschen gab war eine Sache, insbesondere in einem Traum so sonderbar wie diesem - aber nicht einmal eine Maus? Allgemein schien jedes Leben aus dem Ort gewichen. Es waren keine Blumen an den Fenstern, keine Vögel in der Luft, die sich überall anders so früh morgens normalerweise die Seele aus dem Leibe zwitscherten. Sogar der Boden war restlos leer gefegt. Wo sonst Unkraut aus den Fugen kroch, war hier nur dunkler Staub und anstatt lose herum fliegenden Flyern und Papier-Müll am Gehsteig gab es nur vereinzelte Kiesel. Neugierig geworden trat Ellie an ein größeres Fenster heran und wurde herb enttäuscht als vor ihr nur gähnende Leere erschien. Einzig eine dicke Staubschicht fand sich in dem verlassenen Ladenfenster. Ein paar vereinzelte Möbel standen herum, erschreckend normal aussehende Stühle und eine umgestürzte Kommode, doch abgesehen davon keine Spur von Bewohnern.

Mit gerümpfter Nase drehte sie sich wieder um, der schwere Knoten in ihrem Magen beinahe vergessen als sie sich mit wachsendem Eifer umsah. Gut, es war ein Traum, soviel war sicher. Sie war eingeschlafen und hatte nun den wohl langweiligsten Klartraum, den man sich vorstellen konnte. Aber wenn sie schon ihren wertvollen Schlaf hier vertrödeln musste, wollte sie wenigstens unterhalten werden! Ihr Schritt beschleunigte sich, auch wenn sie sich immer wieder dabei ertappte, wie sie nervös an ihren Haaren zupfte. Bald kreuzten Straßenschilder ihren Weg, doch sie waren genauso nutzlos wie scheinbar alles in dieser Gegend. Die Holzschilder waren mit ruhnenähnlichen Zeichen graviert und so fremdartig, dass sie kein Wort verstand und weiter aufs Geratewohl marschierte. Als sie dabei immerzu dem Echo ihrer eigenen Schritte horchte, kehrte das übermächtige Gefühl der Unruhe zurück. Die Stille war zermürbend genug, doch die Gleichartigkeit um sie herum gab ihr den Rest. Das einzig hervorstechende war ein halb geöffneter Gullydeckel, dem sie ausweichen musste, doch ansonsten glich jeder Zentimeter dieser ‚Stadt‘ dem anderen. Ellie überlegte bereits halbherzig, einfach vor sich hin zu singen, um die Stille zumindest mit irgendeiner Art von Kurzweil zu füllen, als endlich ein Geräusch an ihr Ohr drang. Ein leises Zischen in der Distanz, kaum vernehmbar, doch gerade laut genug, um sie mitten in der Bewegung zu stoppen. Wurde sie wahnsinnig? Brachte die ewige Stille bereits zum halluzinieren? Nein, es war da - viel zu leise und scheinbar meilenweit entfernt, doch unverkennbar da. Vorsichtig tapste sie dem Geräusch entgegen, tunlichst bedacht, die Quelle des Zischens nicht zu verjagen als sie die Hauptstraße verließ. Die Gasse sah genau aus wie die letzte, wieder fand sie sich in wachsender Dunkelheit, doch merkte es kaum, viel zu gefesselt von dem monotonem Zischen, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Eine weitere Seitengasse dann noch eine. Dann endlich wurde der Laut klarer und als sie um die letzte Ecke bog, konnte sie es sehen: eine dunkle Silhouette, die vor ihr inmitten der Straße kauerte. Der Ursprung des Zischen. Ein vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase, eine Mischung aus Vanille und Salz, die ihr den Atem verschlug. Fasziniert trat Ellie näher, streckte die Hand vor, um nach dem Ding zu greifen.

»Hallo?« Sie spürte die Erschütterung in dem Wesen, sah das ruckartige Zucken, als es sich um wandte. Ein kleiner, unförmiger Körper, krallen-besetzte, schwerfällige Klauen, ledrige, schwarze Haut die sich über spitze Knochen spannte und Augen wie rot glühende Kohlen, die sie unverwandt anstarrten. Ellie warf sich die Hände vor den Mund um ihr erschrockenes Keuchen zu dämpfen, doch das Wesen hatte sie schon bemerkt - und stürzte auf sie zu. Ellie fuhr herum, stolperte beinahe über ihre eigenen Beine, als sie versuchte aus der Gasse zu hechten. Das war kein Traum. Es war ein Albtraum. Mit Mühe schaffte sie es um die Ecke, doch der Schatten folgte ihr. Über die engen Seitenwege zurück zu dem breiten Hauptweg von dem sie gekommen war, vorbei an den leeren Fenstern und flackernden Laternen während die unmenschlichen Laute dieses Dings von den silbernen Fassaden widerhallten. Bald spürte sie das Brennen ihrer Muskeln mit jedem Schritt, eisige Nadelstiche, die ihr bei jedem Atemzug die Lungen durchbohrten. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, als das Monster hinter ihr trotz allem nicht langsamer wurde. Stetig rannte es weiter, kam immer näher und näher, bis es schließlich einen grausigen Schrei ausstieß. Doch es war nicht der triumphale Ruf eines Jägers, der seine Beute vor sich hatte: Es war ein Schrei nach Unterstützung - und die kam. Aberdutzende, koboldartige Wesen quollen plötzlich aus den Gassen, strömten auf die Hauptstraße und streckten ihre gigantischen Krallen nach Ellies Beinen aus. Immer wieder wich sie in Nebenstraßen aus, hetzte über das hallende Pflaster und rang nach dem bisschen Atem, das ihr noch geblieben war, während der Schweiß in dicken Perlen über ihren Nacken lief. Die Verfolger aber wollten nicht ablassen - und im Gegensatz zu ihr wurden sie nicht müde. Innerlich fluchte sie, wie war es möglich dass sie nicht erschöpften? Wieso wurde sie müder, wenn das alles nur ein Traum war? Wieso konnte sie sich nicht einfach aus diesem Albtraum aufwachen lassen? Ihre Verfolger wuchsen stetig in der Zahl und bald war vor ihr nur noch eine Gasse in der es nicht von den Bestien wimmelte. Sie musste einfach nur aufwachen und alles wäre vorbei - wieso also wachte sie nicht auf!?

War es das, was einen Albtraum ausmachte?

Mit letzter Kraft sprintete sie durch den schmalen Durchgang in die letzte freie Gasse- und verlor allen Mut, als sie eine Bewegung wahr nahm. Ellie beschleunigte. Sie hatte die Wahl zwischen einem Albtraum vor ihr und Dutzenden hinter ihr und sie würde nicht einfach aufgeben. Was ihr den Weg versperrte war aber kein Monster - es war ein Junge. Vielleicht einen halben Kopf größer als sie, blondes Haar … das war auch schon alles, was sie in ihrer Hetzjagd erkennen konnte.

»HIER LANG!« Seinen Ruf hörte sie schon von weitem, aber erst, als sie direkt vor ihm war, erkannte Ellie die schmale Straße, in die er deutete - gut verdeckt von den obskuren Gebäuden der sich lichtenden Stadt. Der Fremde hielt ihr die Hand hin und Ellie packte sie, ohne auch nur langsamer zu werden.

»RED’ NICHT NUR GROß, LAUF!« Bevor er reagieren konnte, war sie abgebogen und zerrte den Blonden erbarmungslos mit sich.

»Ich bin Layan und du bist?«

»Froh wenn ich hier lebendig weg komme! Quatsch nicht, LAUF!« Der ungläubige Blick, den sie ihm zu warf, schien den Fremden kaum zu erreichen, doch zumindest rannte er endlich schneller und ersparte sich weiteren Small-Talk. Während die Häuser neben ihnen immer weniger wurde, sank die Zahl ihrer Verfolger kaum. Ellie schien es, als würden immer mehr der grauen Absurditäten aus dem Nichts auftauchen, während die Straßen und Fassaden langsam von schlammigen Pfaden und blanken Felsen abgelöst wurden. Doch sie hatte keine Zeit sich zu freuen, dass sie die triste Stadt hinter sich gelassen zu haben schien.

Außerhalb der dunklen Mauern konnte das Licht sich ungestört ausbreiten und die plötzliche Helligkeit schien die Biester langsamer zu machen - aber nicht zu stoppen.

»Keine Panik, gleich sind wir da!« Was auch immer da war, sie konnte es nicht sehen und die Lust auf Ratespiele war ihr vergangen.

»Wieso auch - « Ruckartig hielt sie inne, stoppte und wäre beinahe vornüber gefallen. Mit weit aufgerissenem Mund starrte sie vor ihre Füße. »Diese Stadt …« Ellie sah den Abgrund vor sich, bröckelnde Felsen, die sich langsam lösten und vor ihr hinab stürzten. In der Ferne konnte sie etwas ausmachen, das an Berggipfel erinnerte und langsam fügten sich die Bruchstücke zusammen. Die Gipfel lagen nicht vor, sondern unter ihr. Unter der Klippe die sich so plötzlich vor ihr offenbart hatte, gab es meilenweit nichts als klare Luft. »Die Stadt fliegt.« Ihr Mund wurde trocken und sie spürte, wie Übelkeit sie übermannte. »WARUM IN DREI TEUFELS NAMEN FLIEGT DIESE STADT!?«

»Willkommen in Lacrimosa,« Bevor Ellie ihre Sprache wiederfinden konnte, trat der Blonde beunruhigend nahe an den Abgrund heran. »Erklärungen später, jetzt müssen wir erstmal hier weg. Einfach springen - «

»…springen?« Ellie starrte immer noch mit geweiteten Augen den Abgrund hinunter. Hatte er noch alle beisammen? »Bist du nicht ganz dicht?«

»Vertrau mir - «

»Dir vertrauen? Ich kenne dich nicht mal!«

»Aber mich willst du lieber kennen lernen als die hinter uns!« Mit einem Blick zurück musste sie feststellen, dass er Recht hatte. Die Ungetüme kamen immer näher, ihre brennenden Augen strahlten wie dämonische Scheinwerfer durch die Dunkelheit und das Gefühl der Verzweiflung in ihrer Brust stieg mit jedem gleitenden Schritt, den sie taten. »Keine Sorge, ich bin großartig, du wirst es nicht bereuen.« Es war nur ein Traum. Ihr konnte nichts passieren. Einen Lidschlag später packte der Fremde Ellie an der Hand und zerrte sie mit sich in die Tiefe.

 

 

Sie flog. Kein angenehmer, schwebender Flug, wie man ihn sich als Kind vorstellte, wenn man das erste mal Peter Pan las: Ein rasanter, steil sinkender Sturz, der ihr den Atem raubte und ihr Abendessen gefährlich schnell durch ihren Magen rumpeln ließ. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht und Ellie war sicher, einem baldigen Ende entgegen zu blicken.

Doch das Unsanfteste war die Landung.

Benommen kämpfte sie sich von dem rauen Holzboden hoch, auf dem sie mit lautem Krachen aufgeschlagen war, und versuchte die Splitter zu ignorieren, die ihr überall in die Haut gefahren waren: Von den wahrscheinlichen Prellungen und möglichen gebrochenen Rippen ganz zu schweigen. Sie spürte warmes Blut ihr Knie hinab laufen, doch das Adrenalin zwang sie auf die Beine, ohne auf den Schmerz zu achten. Verwirrt blickte sie sich um, es dauerte eine Weile bis sie erkannte, dass die rauen Holzplanken zu einem kleinen Boot gehörten - das nicht weit unter der fliegenden Stadt durch die Luft schwebte.

»Das war etwas unsanfter als geplant, Bel.« Die Stimme des Fremden holte sie zurück in die Gegenwart. Als sie sich nach ihm umdrehte, begann sie endgültig an ihrem Verstand zu zweifeln. Er sprach mit einem leuchtenden Punkt - Einem faustgroßen Orb, der vor ihm in der Luft schwebte. Das Ding leuchtete in mattem Grün und seine ‘Antworten’ beschränkten sich auf inkohärente Brummgeräusche. Im Gegensatz zu Ellie konnte dieser Layan offenbar alles ohne Problem zu verstehen und die beiden schienen drauf und dran in einen Streit auszubrechen - bis sich ein zweiter Orb einmischte. Die nebelblau leuchtende Kugel war etwas kleiner als ihr Kollege und nannte eine glockenhelle Stimme ihr eigen, mit der sie den Blonden rasch zum Schweigen brachte. Ellie indes verfolgte die Unterhaltung mit weit offenem Mund … bis sie die Barriere bemerkte.

»Was zur Hölle … ?« Eine durchscheinende, grün schimmernde Membran schwebte nur knapp über ihrem Kopf, umhüllte die Nussschale wie eine Seifenblase und reflektierte das spärliche Licht um sie in bunten Farben. Zögerlich streckte Ellie die Hand danach aus und stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass die Blase solide war. Eine kalte, glatte Oberfläche, die bei jeder Berührung kurz aufblitze. Erst jetzt erinnerte ihr ‘Retter’ sich an ihre Anwesenheit und wandte sich, mit dem breitesten Lächeln, dass sie je gesehen hatte, nach ihr um.

»Oh, das hätte ich beinahe vergessen!«

»Was? Die Erklärung, was hier eigentlich vor sich geht?« Die schnippische Bemerkung überhörte er geflissentlich.

»Ich darf vorstellen, Bel und Rem.« Er deutete auf die beiden Kugeln, die kurzerhand auf Ellie zu flogen, während sie nur verdattert nickte.

Wahnsinniger Albtraum.

»Wir nennen sie Feen aber ihr bezeichnet sie als Sandmännchen.« Ihr Unglauben musste offensichtlicher sein als gedacht, denn der Junge gab ein verschämtes Lachen von sich. »Sie bringen Träume.« Leuchtende Seifenblasen. Sandmännchen. Das wurde ja immer besser.

»Sind wir zumindest die Monster losgeworden?« Ellie kniff die Augen zusammen, doch durch die schimmernde Barriere und das fahle Licht war es schwer, etwas zu erkennen. Am Himmel konnte sie mittlerweile eine Art Sonne ausmachen, doch ihr Licht war schal und die fliegende Stadt von deren Klippe sie eben gesprungen war, konnte sie kaum noch sehen.

»Keine Sorge.« Ein siegessicheres Lächeln umspielte Layans Lippen als er das Ruder auf der anderen Seite der Nussschale packte. Wie das Schiff dadurch gesteuert wurde, war ihr ein Rätsel. »Die Schatten unterstehen der Kontrolle des Wandlers. Sie entfernen sich nicht grundlos aus Lacrimosa, hier sind wir also siche - « Das laute Krachen von Backbord war anderer Meinung. Ein kräftiger Aufprall versetzte das Schiff in Schwung und die beiden Feen landeten unsanft auf dem Boden, während der Blonde etwas Unverständliches fluchte und sich nur durch seinen Griff am Ruder aufrecht halten konnte. Ellie hatte inzwischen den Ursprung des Rumpelns bemerkt.

»Soviel zu dem Thema!« Panisch versuchte sie in die Mitte des Boots zu gelangen: Eines der Dinger war ihnen gefolgt und krallte sich nun mit seinen Greifer-ähnlichen Klauen an der Barriere fest. Ein weiteres Fluchen von Layan löste ihren Blick von dem Ding um dem seinen zu folgen … großer Fehler. Denn nun sah sie das gute Dutzend silbrig-schwarzer Figuren, die sich ihren Weg zu dem Boot bahnten - fliegend. »Die Greifer haben uns eingeholt!«

»Greifer!? Als was siehst du die Schatten - Baukräne?« Wie fand er in dieser Situation noch Zeit, ihr Vorwürfe zu machen?

»ENTSCHULDIGE? Als was ich sie sehe? Als ledrige Albträume mit glühend roten Augen, die den sehr bestimmten Eindruck vermitteln, mir die Haut vom Leib reißen zu wollen! Als was, sollte ich sie den sonst sehen!?« Einer eben dieser Albträume streckte gerade seine Klaue nach ihr aus - wurde jedoch zurück gestoßen, als seine vergilbte Haut die grüne Wand berührte. Als Antwort gab er ein zischendes Fauchen von sich und bald versuchten die Monster von allen Seiten, sich einen Weg durch die Barriere zu bahnen.

»Keine Ahnung, Spinnen? Ja, ja, die meisten sehen sie als Spinnen.« Ihr verwirrter Blick schien genug Anlass für eine ausführliche Erklärung zu geben, völlig ungeachtet der Verfolger die zunehmend ihre Geduld zu verlieren schienen. »Es sind Alben, Wesen aus den dunkelsten Abgründen. Sie sind jene, vor denen wir Traumtänzer euch beschützen, denn sie rauben euch mit Albträumen das Leben. Sie sind keine physischen Wesen, vielmehr Existenten aus Verzweiflung, die sich in der Angst jener manifestieren, die vor ihnen stehen. Sie lähmen ihre Opfer und ziehen ihre Kraft aus deren Starre.« Ellie musterte den Jungen wortlos. Er hatte eindeutig nicht alle an der Waffel. Andererseits war das hier ein Traum und da konnten schon irrere Dinge passieren.

Für einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken sich einfach aus dem Boot zu stürzen - der Fall würde sie bestimmt aufwecken. Doch als sie über die Reling nach unten blickte, besann sie sich eines besseren.

‚Existenzen aus Verzweiflung‘ … Ellie holte tief Luft und blickte zu dem abstoßenden Wesen, das immer wieder mit dem Kopf gegen die Barriere krachte und zwang sich, das Wesen genauer zu mustern. Die Spitzen Ohren und die gebogenen Hände erinnerten sie an etwas … das Bild einer Geschichte blitzte in ihren Gedanken auf. Das Bild eines Märchens, das ihr Vater ihr als Kind so oft erzählt hatte. Die Geschichte der strahlenden Ritterin der Träume, die trotz aller Gefahren die Mächte der Finsternis bezwang, die sich mit glühenden Augen durch die Seelen ihrer Opfer fraßen - Sie glichen jenen Albträumen, die nun vor ihr standen. Und dann war da noch ihr Geruch. Ellie verabscheute Vanille. Die Verzweiflung, der Kummer - die Angst, die diese Wesen in ihr weckten… es waren manifestierte Albträume.

Abscheulichkeiten, die sich der Monster ihrer Kindheit bedienten, um sie zu lähmen. Und sie rasten immer noch gegen die Barriere vor ihr.

»Gut, das ist eine Sache,« Ihre Stimme fühlte sich viel leiser an, als sonst. »Aber warum verfolgen uns diese verfluchten Dinger?«

»Vielleicht mögen sie dein Parfum?« Der ‚Traumtänzer‘ drehte sich nicht einmal zu ihr um, sondern hantierte am Rand des Schiffs herum. „Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du nach Flieder riechst?« Bevor sie zu einer empörten Erwiderung ansetzen konnte, hatte Layan ein Brett los getreten und schleuderte es kurzerhand aus der Barriere, direkt in das Gesicht des ersten Alben. Mit einem lauten Kreischen verlor dieser den Halt und segelte aus ihrem Sichtfeld, doch ein neuer nahm sofort seinen Platz ein.

»Wird die Blase standhalten?«

»Nein.« Ellie schluckte schwer.

»Rem!« Das kleine Wesen verstand sofort. Eilig schwebte es zwischen die beiden und fast augenblicklich wurde das blaue Strahlen des Wesens immer stärker. »Wir müssen aussteigen.« Vollkommen entgeistert starrte sie dem Wahnsinnigen vor ihr ins Gesicht, nutzte den Augenblick um sich jeden seiner Züge genau einzuprägen. Sie wollte sich ganz genau in Erinnerung behalten, wie der Irre aussah, der sie umgebracht hatte. Goldene Haare umrahmten ein makelloses Gesicht, und obwohl er kaum älter als sie selbst aussah, lag in seinen Zügen etwas merkwürdig archaisches - eine Weisheit, die zu jemand viel älterem gehören zu schien. Ellie sollte keine Zeit haben sich mit seinem Alter auseinanderzusetzen, denn etwas anderes zog sie in ihren Bann. Blaue Nebel, die von roten Sternen durchdrungen im Abendlicht tanzten. Strahlende Kometenschweife, die sich durch glänzende Meere woben und in gleißenden Explosionen vergingen, inmitten der Augen des Fremden. Schon als sie ein Kind war, hatte ihr Vater sie so oft mit sich genommen, ihr stundenlang die Sterne gezeigt und an manch glücklichen Tag konnten sie einen Blick auf die magische Welt über ihr erhaschen.

‘Die Wirbel‘ hatte Charles das leuchtende Wunder genannt. Erst nach und nach verstand sie was es mit Sternen und Nebeln auf sich hatte, lernte ihre Namen und ihre Positionen und realisierte, dass diese Magie nur der Orionnebel war. Nichtsdestotrotz … es war ihr die liebste Erinnerung auf Erden. Und all dieses Glück fand sie in den Augen des Fremden wieder. Plötzliche Wärme ergriff sie und sie merkte kaum das sachte Lächeln, das sich auf den Lippen des Jungen auftat.

»Was siehst du?« Ein wissender Blick bahnte sich durch die bunten Explosionen und Ellie öffnete leicht den Mund, versuchte in Worte zu fassen, was eben geschehen war.

»Ich sehe - « Ein Rumpeln riss sie aus ihrer Trance - eines der Monster war gegen das gleißende Schild gekracht. Moment, was tat sie da eigentlich!? »DAS GESICHT EINES VERRÜCKTEN! Du wirst uns umbringen!« Es war nur ein Traum, ihr konnte nichts geschehen. Doch was die Vernunft so leicht sagte, konnte ihr wild schlagendes Herz kaum erfassen. Für einen Moment zuckte der Fremde zurück, schien überrumpelt, vielleicht sogar beleidigt, doch dann fasste er sich wieder.

»Möglicherweise.« Damit waren letzte Zweifel zerstreut - an diesem Traum stimmte etwas ganz und gar nicht. »Aber «, fuhr er eilig fort, »Die Alben machen aus der Möglichkeit eine Gewissheit und ich bin zu schön um zu sterben!« Sie war nicht beruhigt, doch er untergrub jeglichen Protest ihrerseits - indem er das Ruder packte und das Schiff senkrecht in die Tiefe stürzen ließ. Jegliche Flüche und Beschimpfungen gingen in einen verzerrten Schrei über, als sie an den Albträumen vorbei in die Ungewissheit stürzten. Ellie sah die Alben über sich empört die Verfolgung aufnehmen, spürte den rauschenden Wind, der an ihren Haaren und ihrer Kleidung zerrte - sie selbst fühlte sich fast schwerelos und stemmte panisch die Hände gegen die Decke der verzerrten magischen Blase um den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Der nächste Fehler den Ellie beging, war, nach unten zu sehen.

»Du wirst uns verdammt nochmal umbringen!« Langsam fühlte sie ihren Puls steigen.

»Etwas mehr Vertrauen! « Vertrauen war eines schöne Sache - wenn man nicht gerade mit hundert Sachen dem Erdboden entgegen raste. Layan wirkte vollkommen ruhig. Tatsächlich schien sein Lächeln geradezu euphorisch und Ellie musste ihm zu Gute halten, dass zumindest der Abstand zu den Alben größer wurde. Im Gegensatz zu dem Kerl hatten die Dinger wohl einen Selbsterhaltungstrieb.

»Wir müssen anhalten oder der Aufprall reißt uns in tausend Stücke!«

»Noch nicht - « Der Boden kam näher, Ellie konnte nun einige Felsen im schlammigen Untergrund ausmachen.

»LAYAN!«

»Rem, jetzt!« Die blaue Leuchtekugel schien nur auf den Ruf gewartet zu haben. Wie ein Blitz sauste sie nach oben und strahlend blaue Energiewellen tauchten das Schiff in blendendes Licht. Wie ein Fallschirm blähte das Blau sich über der grünen Membran auf, wurde breiter und höher, bremste das stürzende Schiff immer weiter - bis es schließlich mit einem lauten Knall am Boden auf kam. »Siehst du, Bel, so macht man das! Großartig Rem!« Neben Ellie knallte einer der mutigeren Alben mit einem gellenden Schrei gegen einen der Felsen - sie hörte ein grässliches Knacken und das Ding blieb mit verrenkten Armen einfach liegen. Über ihnen schwirrten die restlichen Alben, wenngleich betont langsamer als sie selbst, zu Boden: Sie hatten noch nicht aufgegeben.

»Was machen wir jetzt?« Ellie warf den Kopf herum, um einen Fluchtweg zu finden. Vor ihnen zog sich eine endlose Ebene dahin, auf der anderen Seite konnte sie eine vage Bergkette ausmachen, aber nirgendwo schien ein brauchbares Versteck oder auch nur so etwas, wie eine annehmbare Deckung.

»Keine Sorge, wir sind unten, bevor sie uns erreicht haben!« Ellie warf einen Blick über Bord um zu sehen, was er am Grund eines hundert Meilen Falls mit ‘unten’ meinen konnte. Der Alb, der neben ihnen gelandet war, hatte sich mittlerweile in schwarze Nebelschwaden aufgelöst und das kleine Boot war im Begriff zu sinken. Zu sinken. Der dunkle Schlamm stieg gierig an den Seitenwänden der Nussschale hoch und begann in diesem Moment über die BrettReling ins Innere des lädierten Gefährts zu schwappen … Ellie hatte es die Sprache verschlagen. Sie starrte auf den dunklen Schlamm der unter ihnen geradezu freudig blubberte. Dann zurück zu Layan. Dann zurück zu dem Schlamm, der mittlerweile ihre Knöchel erreicht hatte.

»Ich werde hier sterben.« Als sie die Lippen wieder schloss, war der Schlamm über ihren Knien. Kurz überlegte sie, ob die Wut aus ihr gewichen war. Dann spürte sie eine vertraute Spannung in ihrem Nacken und versuchte, tief Luft zu holen. Sie würde sterben - so sehr sie das in einem Traum eben konnte - und der blonde Wahnsinnige mit den hübschen Augen würde sie dabei nur gütig lächelnd beobachten. Zumindest würde er mit ihr draufgehen, durch seine halb gebückte Haltung stand ihm der Morast schon bis zur Brust.

»Keine Sorge, halt einfach kurz die Luft an. Es ist etwas umständlich, die Käfer aus der Nase zu bekommen.« Der Bastard grinste noch immer.

Es ist nur ein Traum. Flüsterte sie zu sich selbst, als sein brillantes Lächeln im Schlamm versank. Ein Traum der sich echter an fühlte als wach zu sein. Ein Traum, der ihren ganzen Körper umfasste, eiskalten Schlamm gegen ihren Hals presste und die Luft aus ihren Lungen presste. Ellie hielt die Luft an. Feuchter, stinkender Matsch drückte ihr Gesicht zusammen, zerrte an ihren Haaren – und die ganze Welt verschwand mit einem schmatzenden ‘plopp’.

Sie stürzte einen kurzen Augenblick - nur einen Herzschlag lang - bis harter Boden unter ihren Allerwertesten knallte.

Ihre Augen brauchten einen Augenblick um sich an das schummrige Licht zu gewöhnen, ganz zu Schweigen von dem ganzen Dreck der an ihren Lidern hing. Mit spitzen Fingern versuchte sie, ihr Gesicht ein wenig von dem dunklen Schlamm zu befreien und gedanklich erfasste sie die Situation … hauptsächlich, um nicht lauthals los zu schreien. Sie lebte noch und war immer noch in diesem Traum. Zumindest ging sie davon aus, als sie realisierte, dass der harte Boden unter ihr die versunkene Nussschale war. Alles war voller Matsch, ihre Kleidung, ihre Haare - sogar die beiden Leuchtekugel-Feen - waren mit einer durchgehenden Schicht Schlick überzogen. Oh, ja, und dann war da noch der gut aussehende Schlammberg vor ihr, der nach wie vor breit grinste. Die Verlockung ihn zu ohrfeigen wuchs mit jeder Sekunde. Doch all der Dreck in seinen Haaren hatte ihn bestimmt schon genug gestraft, also beschränkte sie sich auf eine verbale Schelle.

»Was läuft mit dir falsch?« Anstatt darauf einzugehen, sprang Layan auf die Füße und warf Ellie ein Lächeln zu, dass sie in jeder anderen Situation vermutlich erröten lassen hätte.

»Nun, wo wir in Sicherheit sind - « Dieser Kerl musste dringend an seinem Situationsbewusstsein arbeiten. Sie waren gerade vor Klauen wetzenden Monstern aus purer Dunkelheit geflohen, von einer Klippe gesprungen und in einem Treibsandloch versunken. »Ich bin Layan. Kind der Traumtänzer, Sohn des Hüters, Flüsterer der Feen und Wächter deiner Träume.« Zumindest hatte sie jetzt einen Namen, an den sie die Schimpfworte anknüpfen konnte.

»Wow, ein toller Wächter bist du. Sieht das für dich nach einem wohlbehaglichem Traum aus?« Diesmal täuschte sie sich gewiss nicht - er wagte es tatsächlich, beleidigt das Gesicht zu verziehen - aber sie hatte weitaus größere Sorgen als dieses daher gelaufene Traummännchen! Er offenbar auch, denn sein Schmollmund wich binnen Sekunden blanker Verwirrung.

»Ein Traum? Aber - oh.« Sie würde wohl nicht erfahren, welche Erkenntnis ihn getroffen hatte, denn in diesem Augenblick schaffte es die grüne Fee, den restlichen Schlamm von sich zu schütteln und fuhr wild schnatternd auf den Traumtänzer nieder. Er riss die Arme über sich und redete abwehrend auf das Wesen ein, während dessen blauer Counterpart sich ebenfalls leise klingelnd einmischte. Ellie beschloss die drei Fantasiegestalten sich selbst zu überlassen. Wenn sie sich etwas umsah konnte sie die letzten paar Minuten kurz verdrängen - und den Drang den Traumtänzer zu erschlagen.

Als sie sich wegdrehte, stockte ihr der Atem. Sie waren eindeutig unterirdisch, doch von allumfassender Dunkelheit war keine Rede. Rund um sie ragten perlmuttüberzogene Höhlenwände auf. Darin eingefasst, leuchtende, rote Kristalle, die nach oben immer dichter wurden und in ein feines Netz aus bunten Steinen verliefen, das die ganze Decke wie ein Wetterleuchten über ihnen strahlen ließ. Ellie machte einen Schritt zurück, schaffte es kaum, die ganzen Farben um sie zu erfassen. Der dunkle Steinboden unter ihr war übersät mit den fremdartigsten Pilzen. Manche von ihnen sahen aus wie zu groß geratene Champignons, andere waren akstrakte Konstrukte, wie sie nur einem Sci-Fi Film entspringen konnte. Von den meisten ging ein hypnotisches Leuchten aus - eine meerblaue Variante mit schmalen, tief gerillten Stielen stand dabei dicht an dicht mit ihren Genossen und bildete weite Felder auf dem Gestein.

»Wunderschön, nicht wahr?« Layans Stimme verdarb ihr den glänzenden Augenblick schlagartig.

»Ein feiner Traumwächter bist du, Layan der Große!« Ihr Aufruhr schien ihn nicht weiter zu bekümmen, stattdessen zwinkerte er ihr zu und stützte die Arme in die Seiten.

»Was gibt es zu bemängeln? Ich hab dich vor den Alben gerettet, ganz so wie es meine Aufgabe ist.« Sie war zu perplex um genauer darauf einzugehen - und befürchtete, sie würde ihm doch eine knallen, wenn sie zu genau darüber nachdachte.

»Ich würde mich ja bedanken, aber deine Methoden kommen mir fragwürdig vor. Für einen magischen Traumwächter bist du übrigens ziemlich mickrig.«

»Ich bin noch jung!« Sie hätte schwören können, er wäre errötet. »Wir Traumtänzer altern fast wie ihr Menschen, nur, dass wir viel älter werden. Seit etwa fünftausend Jahren - « Er brabbelte munter weiter vor sich hin, was Ellie zum Anlass nahm, sich ein paar Schritte zu entfernen.

Die Höhle, stellte sie fest, war beinahe kreisrund. Die fahle Beleuchtung der Pilze erlaubte ihr den Blick auf zwei bedenklich instabil aussehende Gänge am Ende der Kammer, die sich schon nach kurzem im Dunkel verloren. Etwas raschelte und als Ellie sich danach bückte, bemerkte sie schimmernde Insekten, die über die glänzenden Wände wuselten und sich am Nektar fremder Blumen labten, vollkommen gleichgültig gegenüber ihres neugierigen Blicks. Layan wurde währenddessen in seinen endlosen Ausführungen schließlich von einer der Feen unterbrochen - Bel? - der ihm aufgebracht ins Gesicht schwirrte.

»Jaja, du hast ja Recht, wir gehen ja schon!« Er wandte sich Ellie zu, packte sie vorsichtig an der Schulter und schob sie mit sich in den Breiteren der beiden Gänge vor ihnen. »Wir sind zwar sicher, aber wozu unnötig etwas riskieren?«

»Diese Feen - « Durch das viele Hin und her mittlerweile war es ihr mittlerweile relativ gleichgültig, in welche Todesaktion er sie jetzt stürzen wollte. Obgleich sie immer noch nervöse Blicke hinter sich schweifen ließ - wer wusste ob diese Alben auch in den Treibsand springen würden. Zumindest ihre Neugierde würde sie jetzt noch befriedigen, bevor man sie nochmal angriff. »Was genau sind sie für Wesen? Du hast sie vorher Sandmännchen genannt?«

»Wir Traumtänzer sind endlos weise Wesen, deren Ursprung weiter zurück geht als der Beginn der Zeit selbst - Feen existieren sogar noch länger.« Layan beantwortete ihre Frage, bevor sie überhaupt zu Ende sprechen konnte, wobei ihn Rems helles Klingeln kurz unterbrach. »Unsere beiden Freunde hier sind erst ein paar Jahre hier, aber sie machen ihre Sache gut. Es ist ganz wie in euren Geschichten: Die Sandmännchen lassen euch in tiefen Schlaf fallen, verschaffen euch Träume und bringen eurem Körper und eurem Geist die wohlverdiente Ruhe.« Neugierig musterte Ellie die Wesen und kam nicht umhin, ebenfalls zu lächeln als Rem sich schüchtern hinter Layans Schulter flüchtete. Ihre Stimmen, ihre Bewegungen es war faszinierend, wie unterschiedlich sie in ihrem Charakter waren. »Oh, endlich.« Das erleichterte Seufzen des Tänzers zog Ellies Aufmerksamkeit wieder auf den Gang vor ihnen, wo helles Licht ins Erdreich strömte. Zumindest waren diese Todesfallen nicht allzu lang.

»Ein Ausgang?« Layan nickte und bedeutete ihr bald, durch eine enge Öffnung zu steigen. Nur wenige Stufen und sie hatten die Erdoberfläche erreicht. Die Quelle des Lichts war nicht schwer zu finden, doch verschlug dem Mädchen die Sprache - eine strahlend pink-violette Sonne, die alles um sich in rosa glänzendes Licht tauchte. Weit hinterm Horizont stieg die purpurne Scheibe empor und hatte es kaum über den Himmelsrand geschafft.

»Bei uns laufen die Dinge ein wenig anders.« Bemerkte der Traumtänzer mit einem Zwinkern ehe er in eine Richtung unweit der Sonne zeigte. »Wenn die zweite Sonne den Horizont erreicht, erwacht der Morgen jenseits der Wirbel.«

»Soll heißen?«

»Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Elena.« Er nahm ihre Hand. Der Griff des Tänzers war zärtlich und vertraut - wo er sie berührte, schienen warme Sonnenstrahlen auf ihrer Haut zu tanzen. Ehe Ellie reagieren konnte, hatte er einen weichen Kuss auf ihren Handrücken gedrückt. Ihr Handrücken, der nun plötzlich blass und durchsichtig wirkte. Ein prickelndes Gefühl kroch über ihren Nacken, lullte sie ein wie ein Schlaflied und füllte ihre Sicht mit blütenweißer Farbe.

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